Es ist Samstag, der 1. Februar, etwa 15:47 im Hauptbahnhof Köln. Donnernd fährt der Zug auf dem Gleis über mir ein. Ich sitze auf einer Bank, esse die letzten Bissen meines verspäteten Mittagessens und beobachte die vorbeihastenden Menschen. Einfach irgendwo sitzen und zuschauen, was in der Umgebung passiert, fand ich schon immer spannend. Vor allem am Hauptbahnhof treffen die verrücktesten Menschen aufeinander: Ein Mann im Frauenkostüm, ein in schwarz gekleideter Typ, der eine Klopapierrolle an seinem Gürtel befestigt hat oder ein aufgetakeltes Mädchen, das sich am Handy lautstark über ihre Praktikantenstelle auslässt. Aber in Köln überrascht mich eigentlich gar nichts mehr.
"Entschuldigung, ist hier noch frei?", fragt ein alter Mann mit Gehstock und deutet auf den freien Platz neben mir.
"Ja, aber sicher.", antworte ich. Er setzt er sich umständlich hin, stützt die Hände auf seinen Gehstock und schaut den vorbeigehenden Menschen nach. Eine Weile sitzen wir schweigend da bis sein Handy anfängt zu klingeln. Schwerfällig kramt er es aus seiner Jackentasche.
"Hallo? Ja, ich will halt auch mal raus, ich bin unterwegs. Ich bin in einer Stunde wieder Zuhause. Ja, bis später." Ich muss ein wenig schmunzeln.
"Die Kinder. Machen sich immer direkt Sorgen nur weil mein Auto mal nicht vor meiner Wohnung steht.", sagt der alte Mann und lacht ein wenig.
"Naja, immerhin zeigt das, dass sie sich für Sie interessieren. Wäre ja auch traurig, wenn sie sich gar nicht um sie kümmern würden.", sage ich vorsichtig.
"Das stimmt auch wieder. Aber mein Sohn kann ja auch nicht ständig zu mir kommen. Er und seine Frau müssen auch viel arbeiten und sich um die kleinen Kinder kümmern. Es ist nicht schön die ganze Zeit alleine zu sein. Ich versuche zwar irgendwie den Tag rumzukriegen, aber man kann ja auch nicht die ganze Zeit lesen, fernsehen oder spazieren gehen. Manchmal wenn mir mal wieder die Decke auf den Kopf zu fallen droht, steige ich einfach ins Auto, fahre hierher und setze mich eine Stunde lang in den Hauptbahnhof. Hier bekommt man viel zu sehen. Manchmal gehe ich auch ein Bier trinken, aber dann wird es schwierig mit dem Autofahren.", er lacht erneut.
"Das kann ich mir vorstellen. Solange Sie noch fit genug sind, sollten Sie das auf jeden Fall auch noch tun."
"Ja, zur Zeit geht es mir zum Glück noch gut. Aber man weiß nie, wie lange man noch alleine zurecht kommt."
"Ja, meine Opa hat immer gesagt, dass es nicht schön ist alt zu sein."
"Oh ja. Früher habe ich wirklich immer gedacht, es wäre schön alt zu sein. Das dachte ich wirklich. Aber dann weiß man gar nicht, was man mit der ganzen Zeit anfangen soll. Man ist ja auch nicht mehr so fit wie früher. Und dann kommt das Alleinsein noch dazu. Meine Frau ist vor sechs Jahren gestorben und seitdem wohne ich alleine. Schon der Umzug in eine andere Wohnung war damals wirklich schwer für mich. Meine Frau war meine ganz große Liebe. Damit muss man erstmal klarkommen, plötzlich ohne den anderen zu leben."
"Oh das tut mir leid. Waren sie lange verheiratet?"
"Über 50 Jahre. Für mich war es bereits meine dritte Ehe und für meine Frau die zweite. Aber als ich meine Frau kennengelernt habe, stand ich in Flammen – und sie auch! Es war die ganz große Liebe, das haben wir beide gespürt. Wir haben uns einfach in allem perfekt ergänzt. Ich bereue es nicht vorher schonmal verheiratet gewesen zu sein. Da lief es einfach nicht so gut, aber solche Erfahrungen muss man auch machen im Leben. Erst dann weiß man sein Glück wirklich zu schätzen. Die meisten sprechen so schnell davon verliebt zu sein oder jemanden zu lieben. Meistens ist das keine wahre Liebe! Wenn sich beide wirklich lieben und alles zusammen durchstehen, ist es etwas Besonderes. Meine Frau war die einzige, die mein Herz wirklich berührt hat."
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, weil ich wirklich gerührt bin. Ich kann mir vermutlich nicht mal vorstellen, wie es sich anfühlen muss, die Person zu verlieren, die man am meisten liebt und mit der man den Großteil seines Lebens verbracht hat. Aber ich muss auch gar nicht viel sagen, der alte Mann scheint einfach erleichtert zu sein, dass ihm jemand zuhört.
"Als meine Frau tot war, habe ich die ersten paar Jahre einfach versucht alleine weiterzumachen. Ich habe gar nicht bemerkt, wie alleine ich eigentlich bin. Der Mensch ist nicht dafür gemacht alleine zu sein. Aber sich jemand anderen suchen? Unsere Haushälterin arbeitet schon seit Jahrzehnten für uns. Früher hat sie nur bei uns geputzt, mittlerweile hilft sie mir auch bei der Wäsche und weiß, in welche Schublade meine Socken kommen. Das wusste sonst nur meine Frau! Das war ein schreckliches Gefühl, dass jemand meine Frau ersetzen könnte. Können Sie sich vorstellen, wie sich das angefühlt hat?"
"Ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie meinen. Aber Ihre Frau hätte sicherlich nicht gewollt, dass Sie für immer alleine sind, sondern dass Sie wieder glücklich werden können."
"Ja, ich weiß ganz genau, dass das sogar das Erste gewesen wäre, was meine Frau mir nach ihrem Tod geraten hätte. Aber die Vorstellung ist eben nicht leicht, wenn man so lange mit jemandem verheiratet war, will man nicht einfach jemand anderen."
"Haben Sie und ihre Frau sich denn die ganze Zeit so gut verstanden, wie am Anfang?"
"Oh nein, wir hatten auch mal Streit. Aber es ist einfach wichtig, solche Dinge miteinander zu klären. Wenn man mit einem anderen Menschen zusammenbleiben möchte, muss man über alles reden, damit der andere Bescheid weiß. Es gab auch mal eine Zeit, da waren wir beide etwas unsicher. Aber man muss auch mal einen Schritt auf den anderen zumachen und als wir darüber gesprochen haben, stellten wir schließlich fest, dass wir beide letztendlich das Gleiche wollten. Also fuhr meine Frau einfach mal zwei Wochen ohne mich in Skiurlaub und ich hatte Zeit für mich Zuhause. Wir wussten beide genau Bescheid, was das bedeutete, aber es ist wichtig einander auch mal die Freiheiten zu geben, die man braucht. Man kann nicht über 50 Jahre mit derselben Person zusammen sein und erwarten, dass man sich niemals eingeengt fühlt, falls man sich nicht den nötigen Freiraum einräumt. Also fuhr meine Frau einfach alleine in Urlaub wenn ihr manchmal danach war. Und wir hatten eine wirklich glückliche Ehe, sie war die Liebe meines Lebens. Ich hätte mit niemand anderem zusammen sein wollen."
Aus einem Gespräch, das zunächst noch vorsichtig verläuft und bei dem wir uns nur hin und wieder einen Blick zuwerfen, wird eine interessante Unterhaltung mit einem Fremden. Der alte Mann erzählt mir von seinem Alltag, vom Alleinsein und von seiner Angst alt zu werden und nicht mehr für sich selbst sorgen zu können. Er spricht von der modernen Technik, vom Krieg, seinen Ehen und von der Liebe. Und er verrät mir einige Anekdoten aus seinem Leben: Beispielsweise, wie seine Kinder eine Katze für ihn gekauft haben, damit er nicht so alleine ist.
"Sobald mein Sohn die Katze aus dem Transportkorb gelassen hat, ist sie sofort durch die Katzenklappe nach draußen gelaufen und verschwunden. Ich habe sie nie wieder gesehen. Offensichtlich mochte sie mich nicht besonders. Jetzt will ich keine Katze mehr." Ich kann nicht anders, als mit ihm zu lachen.
Auch ich erzähle ihm ein bisschen von meinem Leben. Ich finde es immer faszinierend, welche Ratschläge einem ältere Menschen geben können, immerhin haben sie so viel mehr Lebenserfahrung. Und der alte Mann ist nicht nur ausgesprochen klug und weise, sondern hat auch noch Humor. Ich bin selbst überrascht, dass ich gerade ein so persönliches Gespräch mit einem völlig Fremden führe, aber vielleicht funktioniert es gerade so gut, weil wir uns nicht kennen.
"So ich werde mich langsam mal wieder auf den Weg machen.", sagt der alte Mann schließlich. Ich blicke auf die Uhr und kann gar nicht fassen, dass ich eine Stunde lang mit diesem Mann gesprochen habe. So langsam muss ich auch los und verabschiede mich.
"Es war schön Sie kennenzulernen. Ich wüsche Ihnen auf jeden Fall alles Gute und das alles so funktioniert, wie Sie es sich wünschen.", sagt der alte Mann noch, als ich mich zum Gehen wende.
Ich gebe zu, die heutige Geschichte ist mal etwas ganz anderes als sonst. Habt ihr schonmal etwas Verrücktes gemacht, was ihr normalerweise nie tun würdet? Diese Begegnung hat mir jedenfalls bewiesen, dass man viel öfter Dinge tun sollte, auf die man sich normalerweise gar nicht einlassen würde. Ich bin froh, dass ich etwas an der Erfahrung des alten Mannes teilhaben konnte und dass ich seinen Tag etwas schöner gemacht habe, weil ich ihm einfach nur zugehört habe. Falls ihr Großeltern habt, ruft doch mal wieder bei ihnen an, sie freuen sich sicherlich darüber mal wieder von euch zu hören. Irgendwann sind wir schließlich alle mal alt und dann werden auch wir uns darüber freuen, wenn man noch an uns denkt :)
13. Februar 2014
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Wunderschön deine Geschichte :) Solche Begegnungen hat man viel zu selten, dabei bereichern sie immer alle die daran teilhaben. Gerne mehr von solchen Einträgen :)
AntwortenLöschenLG Franzi
Danke, ja es war tatsächlich ein bisschen wie im Film :) Ich finds immer total süß, wenn alte Menschen sich noch so sehr lieben.
LöschenRichtig toll! Die schönsten Geschichten schreibt das Leben :)! So etwas lese ich sehr, sehr gerne :)!
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
VA
Ohh, was für ein tolles Erlebnis! :) Diese Momente sind doch das, was das Leben irgendwie ausmachen. Diese kleinen Begegnungen, mit denen man nicht gerechnet hätte.
AntwortenLöschenliebe Grüße :)
Ja, dieses Erlebnis hat auch echt meinen Tag bereichert :)
LöschenWunderschön! Wenn der alte Mann nur wüsste wie viele Leute er hier heute mit seiner Geschichte berührt hat..
AntwortenLöschenKann den anderen nur zustimmen, tolles Erlebnis das du da hattest! :)
AntwortenLöschenWas für eine schöne Begenung! Ich finde, dass solche Begegnungen sehr wichtig und auch spannend sind.
AntwortenLöschenSelten kommt es vor, dass ich mich mal etwas länger mit einem Fremden unterhalte, aber eine Stunde war es auch bei mir noch nicht. Und wie oben auch schonmal geschrieben, sie bereichern so sehr, für beide Parteien!
Toll:)
Eine wirklich schöne Geschichte! Hast du auch sehr lebensnah beschrieben. Solche Momente sind immer etwas ganz besonderes, leider passieren sie nicht oft genug.
AntwortenLöschenDie Geschichte ist so rührend, da muss ich den Kloß im Hals schnell runterschlucken. Vielen Dank für so einen tollen Beitrag. So eine schöne Begegnun hätte ich doch auch gern einmal. Bei uns laufen die Menschen nur mies gelaunt durch die Straßen. :(
AntwortenLöschenhier geht’s zu meinem Blog ♥
Wow, was für ein wundervolles Erlebnis! Ich liebe es, wenn meine Oma mir Geschichten von früher erzählt! Ich meine, man muss sich das mal klar machen, sie lebt schon seit über 70 Jahren auf dieser Welt und selbst ich mit meinen 18 Jahren habe manchmal das Gefühl, dass mir der Kopf platzt vor lauter Errinerungen... Wie muss das erst mit 80 sein?
AntwortenLöschenSchöne Geschichte:) Als Krankenschwester wird mir auch immer viel erzählt. Ich finde es schön Einblicke in das Leben alter Menschen zubekommen und ich glaube auch wie du- sie haben einfach schon so viel Lebenserfahrung und ich denke man kann sehr viel von ihnen lernen!:)
AntwortenLöschenEine toller Text!
AntwortenLöschenWir waren zwei Wochen da :)
AntwortenLöschenEine tolle Geschichte und sehr schön geschrieben! Besonders der Schluss gefällt mir irgendwie sehr :)
AntwortenLöschenWircklich wundervoll. Ich habe immer wieder gedacht, dass ich ein Drehbuch für einen Film lese.
AntwortenLöschenDa bin ich gerade froh, dass meine Grossmutter im selben Haus wohnt, wie meine Eltern,meine Geschwister und ich.
http://spruso.blogspot.ch/
Awww danke <3 :)
LöschenSehr sehr schöne Geschichte :) Schön, dass du dir die Zeit genommen hast. Ich find es manchmal sehr traurig, dass meine Großeltern alle bereits gestorben sind. Und das schon so früh, dass ich es damals noch nicht so wertgeschätzt habe, was für einen unheimlichen Erfahrungsschatz alte Menschen haben. (Ich hoffe, das klingt jetzt nicht doof... Aber allein schon Geschichten "vom Krieg" - es wird nicht mehr lange Menschen geben, die davon überhaupt aus erster Hand erzählen können, da sollte man schon zuhören...)
AntwortenLöschenIch hab übrigens ein paar Fragen zum Thema Reisen beantworten dürfen, und dachte, das passt vielleicht auch zu dir :) http://www.heldenwetter.de/2014/02/stockchen-gefangen-11-antworten-zum.html
Einfach toll, mir sind die Tränen runtergekullert, irgendwann werden wir alle alt werden und wer weiß, wer uns dann noch bleibt und wie wir zurecht kommen werden...und fremden Menschen erzählt man meistens all das, was man seinem Umfeld nie verraten würde :)
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